
Warum technische Projekte ihre Vorhersagbarkeit verlieren
Die kumulative Wirkung kleiner Abweichungen entlang des Wertstroms
Technische Projekte verlieren ihre Vorhersagbarkeit selten durch einzelne große Fehler. Viel häufiger entsteht Instabilität durch eine Vielzahl kleiner Abweichungen, die isoliert betrachtet unkritisch erscheinen, jedoch in ihrer Gesamtheit den Wertstrom schrittweise aus dem Gleichgewicht bringen. Die Mechanismen dieser kumulativen Abweichungen sind in technischen Organisationen weit verbreitet, werden aber selten systemisch betrachtet.
Ein wichtiger Ausgangspunkt liegt in der unterschiedlichen zeitlichen Dynamik einzelner Prozessschritte. Konstruktion, Einkauf, Fertigung und Montage arbeiten mit verschiedenen Zeithorizonten und Informationsständen. Eine Toleranz, die Konstruktion als unkritisch einstuft, kann in der Fertigung zu längeren Einstellzeiten führen oder in der Montage eine unerwartete Passungsabweichung erzeugen. Jede dieser Abweichungen ist für sich genommen lösbar, doch sie verschiebt den technischen Ausgangszustand, auf dem nachfolgende Entscheidungen basieren. So entstehen schleichende Unterschiede zwischen geplantem und realem Zustand.
Parallel dazu wirken Versionsversätze als Verstärker dieses Mechanismus. Wenn Änderungen in der Konstruktion zeitlich versetzt in Einkauf, AV oder Fertigung ankommen, entstehen Konfigurationen, die nicht eindeutig einem Entwicklungsstand zugeordnet werden können. Lagerbestände enthalten ältere Versionen, Lieferanten fertigen nach überholten Vorgaben, und Montage erhält Komponenten unterschiedlicher Reifegrade. Jede Entscheidung entlang der Kette basiert auf der Annahme eines stabilen Dokumentenstandes – eine Annahme, die in der Praxis oft nicht erfüllt ist. Der Wertstrom beginnt sich in mehrere parallele technische Realitäten aufzuspalten.
Ein weiterer Mechanismus liegt in der lokalen Optimierung einzelner Abteilungen. Einkauf bewertet Lieferanten nach wirtschaftlichen Kriterien, Fertigung optimiert Rüstzeiten und Werkzeugwege, Montage passt Bauteile an, um Funktionsfähigkeit herzustellen. Jede dieser Optimierungen hat ihre eigene Logik, doch sie verändert technische Parameter, die für andere Prozessschritte relevant sind. Ein minimal anderer Oberflächenwert kann Reibverhältnisse verändern, eine geringfügig modifizierte Passung beeinflusst Montagespiele, und ein abweichender Schmierstoff verändert das thermische Verhalten eines Systems. Diese lokalen Abweichungen sind selten dokumentiert, doch ihre kumulative Wirkung führt zu systemischer Variabilität.
Die Vorhersagbarkeit schwindet weiter, wenn Abweichungen nicht rückgeführt werden. Montage korrigiert Passungsprobleme, ohne dass Konstruktion die Änderung erfährt. Einkauf substituiert Bauteile, ohne dass Fertigung oder Montage deren Eigenschaften kennen. Fertigung nimmt mikroskopische Änderungen an Bearbeitungspfaden vor, um Werkzeugverschleiß zu reduzieren. Jede dieser Anpassungen wirkt isoliert betrachtet plausibel, doch sie erzeugt eine Drift der technischen Realität. Wenn solche Änderungen nicht in den PEP zurückfließen, entsteht eine steigende Unsicherheit darüber, wie das tatsächliche Produkt technisch aussieht.
Besonders komplex wird dieser Mechanismus, wenn verschiedene Abweichungen miteinander interagieren. Eine leicht abweichende Härte eines Wellenmaterials beeinflusst die Reibung in einem Lager; eine Montagekorrektur verändert die Vorspannung eines Dichtungssystems; ein geänderter Lieferant führt zu anderen Mikrotoleranzen. Die Kombination dieser Faktoren kann funktionale Veränderungen hervorrufen, die keiner einzelnen Abweichung eindeutig zugeordnet werden können. Reklamationen beim Kunden werden dadurch schwer nachvollziehbar, da die Ursache nicht in einem großen Fehler liegt, sondern in einer Vielzahl kleiner unerkannter Abweichungen.
Auch die zeitliche Verzögerung wirkt destabilisierend. Viele Abweichungen zeigen ihre Wirkung erst spät im Projekt – bei der ersten Funktionsprüfung, im Dauerlauf oder sogar erst im Feldbetrieb. Da die ursprünglichen Abweichungen nicht dokumentiert wurden, fehlen die Informationen für eine effiziente Fehleranalyse. Das System besitzt keine historische Spur seiner eigenen technischen Variabilität. Dadurch entstehen lange Fehlerkreisläufe, die Projekte zusätzlich verzögern und weitere Unsicherheiten erzeugen.
Die kumulative Wirkung kleiner Abweichungen führt somit zu einer schleichenden Erosion der technischen Kohärenz. Das Projekt verliert die Verbindung zwischen geplantem, dokumentiertem und realem Zustand. Vorhersagbarkeit ist nur möglich, wenn diese drei Ebenen eng aneinander gekoppelt sind. Sobald sich diese Kopplung löst, wird der Wertstrom unvorhersehbar – nicht aufgrund eines einzelnen Fehlers, sondern aufgrund vieler kleiner Entscheidungen, die im Verlauf des Projekts getroffen wurden, ohne dass ihre systemische Wirkung berücksichtigt wurde.
Vorhersagbarkeit entsteht daher nicht durch strengere Kontrollen oder umfangreichere Dokumentation, sondern durch Mechanismen, die technische Realität sichtbar machen, Versionskonsistenz sichern und Rückmeldeschleifen zwischen den Abteilungen strukturell verankern. Nur wenn auch kleine Abweichungen systemisch berücksichtigt werden, bleibt der Wertstrom stabil und das Projekt behält seine technische Vorhersagbarkeit.


