
Warum viele Unternehmen keinen funktionierenden PEP haben: Strukturelle Mechanismen, die technische Reife unterbrechen
In vielen technischen Unternehmen existiert ein Produktentstehungsprozess (PEP) in Form von Flussdiagrammen, Checklisten oder Lastenheften. Doch die tatsächliche Projektpraxis zeigt etwas anderes: Der Prozess existiert, aber er wird nicht als technischer Steuermechanismus eingesetzt. Das führt dazu, dass technische Reife nicht kontinuierlich wächst, sondern in isolierten Fragmenten entsteht und schließlich die gesamte Wertschöpfungskette destabilisiert.
Ein zentrales Problem liegt in der Struktur der Verantwortlichkeiten. In vielen Organisationen tragen Führungskräfte die formale Verantwortung, während das operative Wissen bei den Fachkräften liegt. Konstrukteure, Monteure, Fertigungsmitarbeiter und Einkäufer besitzen jeweils tiefe Detailkenntnisse über ihre Baugruppen oder Prozessschritte, doch sie haben kaum Entscheidungsbefugnisse. Entscheidungen werden auf Abteilungsebene getroffen, während Probleme auf Komponentenebene entstehen. Dadurch entstehen lange Reaktionszeiten, Informationsverluste und unnötige Schleifen im PEP.
Ein weiterer Mechanismus ist die fehlende Transparenz über den tatsächlichen Reifegrad einzelner Baugruppen. ERP-Systeme bieten zwar Überblick über Termine, Kosten oder Bestände, aber keine technische Sicht auf Maße, Toleranzen, Risiken oder Montagebedingungen. Die technische Realität einer Baugruppe entsteht im CAD, verändert sich im Einkauf, konkretisiert sich in der Fertigung und wird sichtbar in der Montage – doch es gibt kein durchgängiges System, das diesen Reifegrad dokumentiert. Dadurch treffen Abteilungen Entscheidungen auf Grundlage unvollständiger Daten, was zu Konflikten und Verzögerungen führt.
Auch die Schnittstellen zwischen Vertrieb, Konstruktion, Einkauf, Arbeitsvorbereitung und Produktion tragen zur Instabilität bei. Jede dieser Abteilungen optimiert ihre eigenen Ziele: Vertrieb verspricht kundenorientierte Varianten, Konstruktion entwickelt funktionale Lösungen, Einkauf wählt kostenorientierte Lieferanten, und die Fertigung orientiert sich an Prozesszeiten und vorhandenen Ressourcen. Ohne eine technische Führung, die diese Teilziele systemisch ausgleicht, entsteht eine Fragmentierung der Wertstromkette. Kleine Abweichungen im Informationsfluss – etwa fehlende Maße oder unklare Oberflächenanforderungen – wirken sich dabei überproportional stark aus.
Besonders folgenreich sind die Schnittstellenprobleme zwischen Konstruktion und Montage. Die Montage erkennt Abweichungen oft zuerst: eine Passung, die nicht funktioniert, eine Dichtung, die nicht sitzt, eine Oberflächenqualität, die zu hoch oder zu niedrig ist. Fehlt ein etablierter Rückkanal zur Konstruktion, werden solche Abweichungen pragmatisch behoben. Jede korrigierte Stelle verändert jedoch das reale Produkt geringfügig – und diese Veränderungen summieren sich über mehrere Projekte hinweg zu systemischen Funktionsabweichungen. Der PEP verliert dadurch seine Rückkopplungsfähigkeit.
Ein weiterer kritischer Mechanismus entsteht, wenn Änderungen nicht systematisch propagiert werden. Konstrukteure aktualisieren Modelle, aber diese Änderungen gelangen verspätet oder gar nicht zu Einkauf, AV oder Fertigung. Der Lieferant produziert nach altem Stand, während die Konstruktion bereits neue Maße definiert hat. Die Montage erhält Teile mit veralteten Spezifikationen, passt diese an und dokumentiert es nicht. Dadurch entsteht ein permanenter Zustand technischer Inkonsistenz.
All diese Mechanismen führen dazu, dass der PEP nicht als durchgängiger Prozess funktioniert, sondern aus voneinander abgekoppelten Inseln besteht. Jede dieser Inseln erzeugt lokale Optimierungen – aber das Gesamtsystem verliert an Stabilität. Ein funktionierender PEP benötigt daher nicht mehr Dokumentation, sondern strukturelle Voraussetzungen, die technische Reife kontinuierlich sichtbar machen, Verantwortlichkeiten dort verankern, wo das Wissen liegt, und Schnittstellen so gestalten, dass Informationen in beide Richtungen fließen.


